Vom Reisen
Vor etwa zehn Tagen begann ich eine Reise, die mir schon seit Jahren durch den Kopf geisterte. Als Nachkomme der ersten Generation von Gastarbeitern, die aus Deutschland in die Türkei kamen, wollte ich den Weg meiner Eltern nachfahren. Der „Heimatweg“, auf Türkisch „Sila Yolu“ genannt, war eine Route, die sie in den Siebziger- und Achtzigerjahren jedes Jahr im Sommer antraten. Diese Strecke führte sie durch Österreich, die Balkanländer, Kroatien, Serbien, Bulgarien und schließlich über den großen Grenzübertritt „Kapikule“ bei Edirne bis nach Istanbul – eine Distanz von etwa 2.250 Kilometern.
Damals war die Fahrt eine echte Herausforderung. Die Route verlief größtenteils über Landstraßen und führte durch kleine Ortschaften und Gegenden, in denen Raststätten selten waren. Die Tankstellen, die es gab, waren überlaufen. Unsere Autos, meist vollbeladen mit wenig Platz und wenig komfortabel, wären heute für viele nicht einmal eine Überlegung wert. Doch genau diese Erinnerungen an die langen Autofahrten haben mich geprägt und meine Liebe zu Roadtrips entfacht.
Längere Fahrten mit dem Auto haben etwas Meditatives an sich. Sie regen meine Gedanken an und lassen mich spontan stoppen und erkunden. Das Einkehren in kleine Pensionen und Hotels, das Kennenlernen von Menschen und das Beobachten des Geschehens vor Ort sind für mich wertvolle Erfahrungen. Diese Reise sollte jedoch mehr sein als nur ein Roadtrip. Sie war auch eine Möglichkeit, mich mit meinen Wurzeln zu verbinden und zu reflektieren, was „Herkunft“ und „Identität“ heute für mich bedeuten.
Auf dieser Reise wollte ich fotografisch und in Worten festhalten, was diese Begriffe für mich ausmachen. Schon seit meiner Kindheit haben mich die Fahrten mit dem Auto in die Türkei geprägt und mein Interesse an der Fotografie geweckt. Diese Reisen waren der Auslöser für meine Leidenschaft, Orte und Menschen durch die Linse festzuhalten. Später kam das Schreiben dazu.
Inzwischen habe ich Istanbul hinter mir gelassen und bin bereits bei Kilometer 3.300 im Süden der Türkei angekommen. Für meine Fotografie hat diese Reise eine große Bedeutung. Sie lässt mich zurückblicken und gleichzeitig nach vorne schauen. Ich frage mich, wie sich meine Fotografie ändern wird, wie ich mich selbst verändern werde.
Inspiration für diese Reise habe ich auch von Thomas Hoepker, dem kürzlich verstorbenen Fotografen, erhalten. Seine Arbeiten, insbesondere seine Dokumentationen und Porträts, haben mich stets fasziniert. Das Wanderlust Buch ist eine fotografische Reisedokumentation wie kaum ein Anderes und sowohl als Fotograf als auch als Reisender „fühle ich die Aufnahmen darin. Hoepker verstand es, das Wesen der Menschen und Orte einzufangen und ihre Geschichten zu erzählen ohne „touristisch“ oder anders aufdringlich zu sein. Seine Bilder haben mich dazu inspiriert, tiefer zu schauen und näher dran zu gehen und gleichzeitig eine Distanz zum Geschehen zu halten. Sein Einfluss sollte mich auf dieser Reise begleiten und während ich unterwegs bin, holt mich die Nachricht über seinen Tot ein.
Diese Reise auf den Spuren meiner Eltern ist mehr als nur eine Fahrt von A nach B. Sie ist eine Reise zu meinen Wurzeln und dessen Identität. Die Kamera ist mein ständiger Begleiter und sollte mir dabei helfen, diese Momente festzuhalten und zu reflektieren. Aber ich habe bisher kaum auf den Auslöser gedrückt. Weil ich merke wie sehr es mir wichtig ist den Moment nicht durch den Sucher zu erleben sondern so wie er ist, vergänglich und für die Erinnerung in meinem Kopf. Ich bin gespannt, wohin mich diese Reise noch führen wird.