10 Tage
10 Tage
Manchmal, wenn man eine Reise beginnt, glaubt man zu wissen, wohin sie führen wird. Aber dann geschehen Dinge, die man nicht vorhersehen konnte. Sie schieben sich leise zwischen die geplanten Etappen, und wenn man am Ende zurückblickt, ist die Reise eine ganz andere geworden als das was man von ihr erwartet hätte.
Tag 1: Über dem Meer
Der Nachmittag auf dem Deck der Fähre, irgendwo zwischen Griechenland und Italien, war wie ein verlorener Traum. Ich schlief unter freiem Himmel, eingehüllt in eine Decke aus Wind, Meeresrauschen und dem Brummen der Maschinen. Der Himmel war blau und leer, und die Sonne war so hell, dass man sie schon nicht mehr richtig lokalisieren konnte. Der Schlaf kam plötzlich, als wäre er längst überfällig. Es war der erste tiefe Schlaf seit Monaten, und als ich aufwachte, wusste ich nicht mehr genau, wo ich war. Kilometer 6.048 auf meiner Reise, irgendwo entlang der albanischen Küste, zwischen ein paar Ländern.
Tag 2: Hitze in Bari
Bari war heiß. Eine drückende Hitze, die sich durch jede Ritze schob und die Gedanken schwer machte. Die Stadt war voll von Geschichten, die in ihren alten Mauern schlummerten, aber ich hatte nicht die Geduld, sie zu hören. Sogar die Knochen von Sankt Nikolaus, die hier ruhen, konnten mich nicht lange aufhalten. Ich fuhr weiter, dem heißen Atem Apuliens entkommen wollend, bis nach Pescara.
Tag 3: Stille in Pescara
In Pescara fand ich einen kleinen Ort am Meer, eine Pension, kaum größer als ein Versteck. Das Zimmer war eng, mit einem kleinen Balkon, der auf ein Bahngleis hinausging. Dort, zwischen den Pinien, las ich und ließ die Zeit verstreichen. Der Wind trug das Meeresrauschen zu mir, gemischt mit dem Zirpen der Zikaden, und alle 30 Minuten brach ein Zug die Stille, nur um sie danach wiederherzustellen. Am Abend kam eine alte Freundin zu Besuch. Wir sprachen über dies und das, als mein Handy begann, sich zu melden. Anmeldeversuche aus London. Als ich nachsah, war mein Instagram-Account verschwunden. Jemand aus Vietnam hatte ihn übernommen. Ich legte das Handy beiseite und machte mit dem Abend weiter. Die Sache war noch nicht in meinen Gedanken angekommen. Doch als ich spät in der Nacht wieder nachsah, schaute mich ein kleines Kätzchen aus meiner ehemaligen Bildergalerie an. Es war, als hätte jemand die Tür zu einem Zimmer geöffnet, das längst nicht mehr mir gehörte und ich schaute von außen hinein.
Tag 4: Motorräder und verlorene Konten
Bologna und Monza zogen mich mit ihren Motorrädern und Museen in den Bann, aber im Hintergrund nagte der Gedanke an den verlorenen Account. In einem kleinen Luxushotel in Monza, gegenüber der alten Villa Reale, sah ich das Video. Der neue Besitzer meines Instagram-Accounts hatte es gepostet, ein Fotograf, der mit einem Model arbeitete. Zum ersten Mal stieg ein Ärger in mir auf, doch er war nicht heiß und schnell, sondern kalt und langsam. Es war, als hätte dieser Mensch etwas von mir gestohlen, nicht nur ein paar Bilder, sondern auch einen Teil meiner Identität. Ich versuchte, mich auf andere Dinge zu konzentrieren, aber der Gedanke blieb, wie ein Stein in meinem Schuh.
Tag 5: Die Grenze und das Ende
Nach einem Brunch am Luganersee überschritt ich die Grenze nach Deutschland. Kilometer 7.100 meiner Reise. An einer Tankstelle hielt ich, trank einen Kaffee und wusste, dass die Reise in gewisser Weise zu Ende war. Die letzten 300 Kilometer waren nur noch eine Formalität. Doch dann kamen wieder Anmeldeversuche, wieder aus London. Diesmal war es mein Facebook-Account, der gehackt wurde. Innerhalb weniger Minuten war auch er verloren. Ich fuhr weiter, entladen von allem außer der Müdigkeit, und als ich zu Hause ankam, dachte ich nicht mehr an die Reise, nicht an die verlorenen Konten. Ich duschte und ging schlafen, als wäre nichts geschehen.
Tag 6: Unerwartete Freude
Am nächsten Morgen entdeckte ich die neue Ausgabe des *Swan Fineart Magazines*. Es wurde während meiner Reise zugestellt. Meine Fotografien waren darin abgedruckt, schwarz auf weiß, festgehalten für immer. Ein langes Interview auch. Es war eine stille Freude, fast unmerklich, aber tief. Zum ersten Mal hielt ich meine eigenen Bilder in gedruckter Form in den Händen. In diesem Moment verloren die verlorenen sozialen Medien ihre Bedeutung. Es war, als hätte ich etwas Reales gefunden, das nicht so leicht gestohlen werden konnte.
Tag 7: Arzbach und die Menschen
Zwei Tage nach meiner Rückkehr fuhr ich nach Arzbach, einem kleinen Ort im Wald. Ich war nie jemand für große Menschenmengen, aber an diesem Abend fühlte ich mich unerwartet wohl. Ein Fotografie-Meet-up, ein Treffen von Menschen, die sich für das Gleiche interessierten wie ich. Es war nicht das Netzwerken, das mich anzog, sondern die Gespräche. Alte Freunde und neue Bekanntschaften, Gespräche über das Reisen, über das Leben in der Türkei und in Weimar. Die Nacht senkte sich langsam herab, und fünf Minuten vor Mitternacht zog ich mich zurück, um in einen ruhigen Schlaf zu gleiten. Es war der Vorabend meines Geburtstags, und ich wurde von einer fremden Katze begrüßt, die mich argwöhnisch musterte, bevor wir beide dem Schlaf nachgaben.
Tag 8 bis 10: Rückeroberung und Erkenntnis
Die nächsten Tage brachten eine überraschende Wende. Eine Kollegin bot ihre Hilfe an. Ein Kontakt bei Meta würde sich das Problem mal ansehen und mir dabei helfen den Account wiederzubekommen. Und kurze Zeit später kam eine Mail mit Anweisungen die ich befolgte und nach und nach gelang es mir, meinen Instagram-Account wieder zu übernehmen. Der Moment, in dem ich mein eigenes Bild wieder im Profil sah, war befriedigend, aber nicht triumphal. Es war, als hätte ich einen verlorenen Gegenstand zurückbekommen, der an Wert verloren hatte, aber trotzdem zu mir gehörte.
Doch es war nicht nur die Rückkehr des Kontos, die zählte. Es war die Erkenntnis, dass diese sozialen Medien, die ich oft als oberflächlich und bedeutungslos abgetan hatte, doch eine Verbindung zu echten Menschen darstellten. Menschen, die sich um mich sorgten, die mich unterstützen wollten, auch wenn es nur durch einen Klick auf "Melden" oder "Teilen" war.
Am Ende dieser 10 Tage, die das Ende meiner fast 5 Wöchigen Reise waren, blieb eine tiefe Ruhe in mir. Mehr als nur eine Abfolge von Kilometern, war sie eine Entzerrung der Zeit. Weniger das passierte pro laufender Stunde. Menschen und Orte die ich zum Teil gar nicht plante kennenzulernen. Nicht im Hier und Jetzt, sondern auch in dem Davor und Danach zu sein. Die drei Zeiten miteiander zu verbinden. Weil sie zusammengehören.
Ich fuhr los weil ich die Reise fotografisch dokumentieren wollte. Ich machte weniger als 10 Bilder.