Sila Yolu, der Heimatweg

Auf Reisen bin ich immer auf der Suche nach einer Verbindung. Zwischen mir und der Welt. So auch auf Dieser, zwischen Erinnerungen und der Realität, die sich beständig verändert. Entlang der alten Route, die tief in meiner Familiengeschichte verankert ist. Eine Route, die meine Eltern als türkische Gastarbeiter nach Deutschland führte, als die Welt noch ganz anders aussah. Es war die Rückreise in die Türkei, die sie jedes Jahr im Sommer unternahmen, um sich ihrer Heimat zu vergewissern, bevor sie wieder zurück in das fremde Deutschland kehrten. Solange, bis dieses dann zu ihrer Heimat wurde. Ich wollte diese Reise wiederholen, nicht einfach um dieselben Dinge zu sehen, sondern um das Gefühl zu finden, das ich als Kind hatte, als wir diese Strecke zurücklegten. Auch um dem mittlerweile dünnen Faden zu meiner Herkunft zu folgen.

Es sollte auch eine fotografische Dokumentation werden. Ausgestattet mit zwei Leica Kameras, einer Contax Kompakt Kamera und diversen Linsen. Am Ende machte ich nur eine Handvoll Bilder auf der 2.100 Kilometer langen Route zwsichen Frankfurt und dem Grenzübergang Kapikule.

Bild 1: Rastplatz zwischen Graz und Zagreb

Es ist später Nachmittag, als wir auf einem Rastplatz irgendwo zwischen Graz und Zagreb anhalten. Nach fast 900 Kilometern Fahrt fühle ich eine seltsame Ruhe in mir aufsteigen, fast so, als würde die Straße mich langsam in eine andere Realität ziehen. Ich sitze im Kofferraum unseres Autos, meine Beine baumeln heraus, und ich spüre die Hitze des Bodens an meinen Fußsohlen. Mein Cousin, der mich begleitet, schaut mich an und meint, es sei der perfekte Moment, um die Kamera herauszuholen. Erst jetzt, nach all den Kilometern, denke ich überhaupt daran ein Bild zu machen Der Portra 400 ist eingelegt, ein Film mit 36 Aufnahmen. Drei davon gehen sofort drauf, mein Cousin will sicher sein, dass wir den Moment festhalten. Es ist der erste Moment auf dieser Reise, in dem ich wirklich das Gefühl habe, unterwegs zu sein. Nicht nur räumlich, sondern auch innerlich. Es ist das Gefühl, dass diese Reise mehr ist als nur eine physische Bewegung von einem Ort zum anderen. Es ist eine Rückkehr zu etwas Verlorenem, vielleicht zu einem Teil von mir, den ich längst vergessen hatte. So melancholisch das auch klingen mag.

 

Bild 2: Der Genex Tower in Belgrad

Belgrad empfängt uns mit dem Anblick des Western Gate, des ikonischen Genex Towers. Dieser Turm hat etwas Unverrückbares, beinahe Bedrohliches. Und doch ist er voller Erinnerungen. Früher, als Kind, war dieser Turm das Signal, dass wir die Hälfte unserer Reise erreicht hatten. Der Anblick des Genex Towers bedeutete, dass wir Yugoslawien bald durchquert hatten, und dass die Türkei, das Land meiner Eltern, bald näher rückte. Jetzt sehe ich ihn aus einer neuen Perspektive. Nicht von der Rücksitzbank, sondern selbst am steuer sitzend.

Ich kann ihn nur aus dem fahrenden Auto fotografieren. Ich hätte gerne angehalten, aber die Navigationsansagen konkurieren beharrich mit diesem Moment und der Wunsch nach einer Dusche bald einen Drink an der Hotelbar Knehmen zu können, sind einfach zu groß. Die Kamera lag glücklicherweise griffbereit neben mir im Türfach. Ein Bild im Vorbeifahren – fast so flüchtig wie die Erinnerungen selbst. Wir beschließen am nächsten Morgen, noch einmal hinzufahren. Ich möchte den Turm näher sehen, ihn festhalten, vielleicht verstehen, was er für mich bedeutet. Auf der Rooftop Terrasse des Mama Shelter Hotels sitzend und betrachte ihn aus der Ferne. Der Sonnenuntergang taucht ihn in ein sanftes, goldenes Licht, und ich spüre eine merkwürdige Melancholie. Es ist fast, als wolle ich den Moment hinauszögern, als hätte ich Angst davor, das Bild, das ich von diesem Turm habe, zu zerstören, indem ich ihm zu nahe komme. Ich google ihn währenddessen und stelle mir vor wie die Stadt von dort aus wohl aussieht und ob gerade irgendjemand aus einem der Fenster sieht.

Am nächsten Morgen, beim Frühstück, sehe ich ihn wieder. Er steht da, unverändert, und doch habe ich das Gefühl, dass ich ihn bereits genug betrachtet habe. Ohne ein weiteres Wort fahren wir los und verlassen Belgrad, ohne jemals in die Nähe des Genex Towers zu kommen. Manche Dinge sollen wohl einfach aus der Ferne betrachtet werden.

 

Bild 3: Ein Pappbecher Kaffee in Pirot, Serbien

Ich stehe an einer Tankstelle, irgendwo am Rande von Pirot, nahe der Grenze zu Bulgarien. Vor mir auf dem Tisch steht ein Pappbecher Kaffee, dampfend in der Mittagssonne. Der Himmel ist klar und leer. Vor vielen Jahren fuhren wir oft hier durch, auf dieser alten Strecke, die sich durch die Berge schlängelte, entlang des Flusses, der immer wieder zwischen den Bäumen auftauchte. Damals war hier alles belebt: Werkstätten, Pensionen, kleine Cafés, die am Straßenrand standen, wo Menschen anhielten, um sich auszuruhen, zu essen oder ihre Autos reparieren zu lassen. Jetzt aber wirkt alles leer und verlassen, Die Zeit hat diese Orte einfach aufgegeben.

Seitdem die Autobahn gebaut wurde, die alte Straße nur noch eine verblasste Erinnerung ist, starben diese kleinen Ortschaften regelrecht aus. Die einst lebendigen Gebäude verfallen, sie sind wie verlassene Hülsen, die langsam in der Landschaft verschwinden. Alles, was leicht zu entfernen war, ist längst weg – die Schilder, die Möbel, Fensterrahmen und Türen, die Erinnerungen an ein reges Leben. Zurück bleiben nur die Mauern und das, was zu schwer war, um es wegzutragen.

Ich trinke meinen Kaffee, schaue sehe mir die Schriftzeichen auf dem Becher an, während mein Cousin noch an der Zapfsäule steht. Früher hätten wir hier Tee getrunken. Ich erinnere mich daran, wie die Jungs damals an die Autos kamen, wenn die Fahrer tankten, mit ihren Eimern, Schwämmen und kleinen Scheibenwischern, um ein paar Groschen oder eine Dose Cola zu verdienen. Das war der Rhythmus des Lebens hier  während der Reisezeit– schnell, improvisiert, doch voller Leben. Heute scheint all das verschwunden zu sein. Doch als ich den Motor unseres Wagens wieder starten will, sehe ich sie – zwei Jungs, vielleicht zehn Jahre alt, mit einem kleinen Eimer und einem abgenutzten Scheibenwischer.

Sie kommen langsam auf uns zu, ignoren, dass ihr Dienst in dieser veränderten Welt fast überflüssig geworden ist. Unser Auto ist sauber, aber ich lasse sie trotzdem ihre Arbeit machen. Der eine wischt die Windschutzscheibe ab, während der andere den Schwamm entlang der Seiten zieht. Ihr Ernst bei der Arbeit wirkt fast erwachsen, und doch ist da eine kindliche Energie. Als sie fertig sind, erwarten sie nicht das übliche Geld. Stattdessen bitten sie um eine Dose Red Bull. Die Zeit hat sich verändert, und mit ihr die Wünsche der Kinder. Früher war eine Cola der Inbegriff von Luxus, heute ist es ein Energy-Drink.

Ich gebe ihnen, was sie wollen, und sie laufen fröhlich davon, während wir wieder losfahren. Die alte Strecke mit den 14 Tunneln, die wir einst so oft gefahren sind, liegt irgendwo in der Ferne, wie eine vergessene Ader, die einst das Leben hier pulsieren ließ. Jetzt ist sie überflüssig, genauso wie die Geschichten, die sie einst erzählte. Aber für einen kurzen Moment, mit dem Kaffeebecher in der Hand und dem Geräusch der Scheibenwischer, fühlte es sich fast an, als hätte sich nichts verändert.

 

Bild 4: Zwei Pässe in meiner Hand an der Grenze Kapikule

Kapikule – der Name hallt wie ein Echo durch die Geschichte meiner Familie. Dieser Grenzübergang ist nicht nur ein Tor in ein anderes Land, sondern eine Schwelle zwischen den Welten, zwischen dem Hier und Dort, zwischen Europa und der Türkei, zwischen der Heimat meiner Eltern und dem fremden Land, das sie für sich erobern mussten. Seit 6 Jahrzehnten ist Kapikule das Symbol für den Übergang, den Gastarbeiter auf ihrem Weg in die Türkei durchqueren mussten, und jedes Mal brachte dieser Ort seine eigene Magie und seine eigene Nervosität mit sich.

Ich sitze im Auto, halte zwei Pässe in der Hand, warte am Fahrerfenster. Vor mir die Grenze, die sich mit dem Verkehr und den Checkpoints in die Länge zieht. Kapikule war schon immer eine Herausforderung, die „Mutter aller Grenzübergänge“. Mein Herz klopft schneller, als ich daran denke, wie wir früher mit einem vollbeladenen Auto durch die Grenzstationen fuhren. Damals, als Bulgarien noch kommunistisch war, mussten wir mit dem Auto durch diese seltsam anmutenden, mit Wasser gefüllten Becken fahren. Warum das so war, wusste ich nie genau – vielleicht war es ein symbolischer Akt, um sich die "Füße" zu reinigen, bevor man das Land, das einen nicht wollte, verließ. Oder vielleicht wollte man sicherstellen, dass kein Staub aus Bulgarien in die Türkei getragen wurde. Die Symbolik war voll von einer alten, unausgesprochenen Abneigung, die niemand offen aussprach, aber jeder spürte.

Ich erinnere mich genau an den Moment, als das Auto langsam durch das Wasser fuhr, und jeder Reisende mit einer gewissen Anspannung spürte, wie das Auto die Wasseroberfläche berührte. Es war fast wie eine inoffizielle Prüfung – die letzten Hindernisse, bevor man das ersehnte Ziel, die Heimat, endlich betreten durfte. Für mich war es ein Ritual der Grenzüberschreitung, das sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt hat.

Zwischen den Kontrollstationen sitzt meine Mutter neben mir im Auto, und ich spüre, wie ihre Augen zu tränen beginnen. Das war immer so – an einem bestimmten Punkt während des Wartens, zwischen dem ersten Checkpoint und dem letzten, überkamen sie die Emotionen. Sie weinte, und auch ich konnte mich nie lange zurückhalten. Es war ein seltsames Zusammenspiel von Trauer und Erleichterung, von dem Gefühl, die harte Reise fast geschafft zu haben, und der Vorahnung, bald wieder in die Heimat einzutauchen. Dann lachten wir. Erst sie, dann ich. Es war unser Moment.

Ich sehe meinen Vater vor mir, wie er damals mit dem Triptik-Zolldokument herumhantierte – dieses seltsame Dokument, das dafür sorgen sollte, dass das Auto das Land wieder verlässt, ohne dass Zollgebühren anfallen. Er verschwand oft für eine halbe Stunde, um die Stempel zu holen, und kehrte mit einer Stange Lord Zigaretten zurück. Meine Eltern rauchten nie, aber in der Türkei, da war das anders. Bei Besuchen bei Verwandten und während geselliger Abende nach dem Essen, saßen sie da, die Zigaretten ungeschickt zwischen den Fingern, und pafften Rauch in die Luft. Dieses Bild kam mir plötzlich in den Sinn, als ich auf die Massen von Autos vor mir schaute, die alle auf das gleiche Ziel zusteuerten.

Ein Hupkonzert bricht aus. Es beginnt irgendwo in der Ferne, und bald stimmen alle ein. Die Hupen werden zu einem Chor, zu einem kollektiven Ausdruck der Ungeduld, des Frustes, aber auch der Vorfreude. In diesen Momenten fühlte ich mich immer als Teil von etwas Größerem, einem Ritual, das die Anstrengung und das Warten überbrückte und uns alle miteinander verband. Ich drücke auf die Hupe, und es ist fast wie ein Zeichen der Solidarität, ein Signal dafür, dass wir es bald geschafft haben. Für viele war es auch ein Zeichen der Freude, besonders wenn die Autos auf dem Weg zu einer Hochzeit oder einem anderen festlichen Anlass sind. Das Hupen wurde zu einer Art musikalischem Vorboten für das, was uns erwartet.

Endlich sind wir an der Reihe. Der Grenzbeamte nimmt unsere Pässe und beginnt, sie zu kontrollieren. Ich versuche, ein wenig Smalltalk zu führen – „Wir sind das letzte Mal Ende der 80er Jahre hier durchgefahren.“ Der Beamte nickt stumm, seine Augen bleiben auf die Pässe und die Dokumente gerichtet. Dann, ohne viel Aufhebens, reicht er mir die Dokumente zurück und sagt mit einem Lächeln: „Hoşgeldiniz, Selim Bey.“ Willkommen. Dieser Satz reicht aus, um die ganze Reise und all die Anspannung, die damit verbunden war, in etwas Einfaches, Vertrautes und Schönes zu verwandeln.Eine Emotion kommt in mir hoch, nicht genug um Tränen in die Augen zu treiben aber genug um mich noch sehr lange daran zu erinnern.

Die Grenze liegt hinter uns. Die Türkei liegt vor uns. Und mit ihr all die Erinnerungen, die sowohl vergangen als auch immer gegenwärtig sind.

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Vom Erzählen über Fotografie

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